Professor Meireis ist Professor für Ethik. Im Gespräch erzählt er, warum die Theologie auch denjenigen etwas zu bieten hat, die gar nicht wissen, ob das Pfarramt etwas für sie ist.
Professor Meireis, fünf Hauptfächer, mehrere Nebenfächer, außerdem noch Hebräisch, Griechisch und Latein – wer Theologie studieren möchte, sollte Spaß am Lernen haben, oder nicht?
Ich würde es andersherum sagen: Es gibt an deutschen Universitäten eigentlich kein Studium mehr, das so breit aufgestellt ist wie die Theologie. Auch wenn die Sprachen vielleicht eine Hürde darstellen mögen, sind die Anforderungen in der Regel zu bewältigen. Wer sich darauf einlässt, bekommt eine Allgemeinbildung, die von Philosophie über Ethik, Philologie, Pädagogik, Rhetorik und Textauslegung bis hin zu sozialen und politischen Fragen der Gegenwart reicht.
Wie sind Sie selbst zur Theologie gekommen?
Ich stamme aus einem eher konventionellen Haushalt – meine Eltern gingen Weihnachten in die Kirche, man ließ sich konfirmieren, aber das war es dann auch. Als ich in den Konfirmationsunterricht sollte, habe ich mich geweigert und damit einen riesigen Familienkonflikt heraufbeschworen. Der Pfarrer machte mir dann ein Angebot: „Du schaust dir das zwei Wochen an, und wenn es dir nicht liegt, komme ich zu dir nach Hause und überzeuge deine Eltern persönlich davon, dass du nicht zum Konfirmationsunterricht musst.“ Das hat mich schwer beeindruckt. Im Prinzip war es das erste Mal, dass ich die Freiheit des Christenmenschen verstanden habe. Nach dem Abitur wollte ich allerdings zunächst Philosophie studieren, weil mich die Sinnfragen sehr interessiert haben. In der Studienberatung habe ich dann aber festgestellt, dass die Philosophie sehr spezialisiert ist. In der Theologie hat man einen praktischen Gegenstand, von dem aus man auf Gott und die Welt schaut – im wahrsten Sinne des Wortes.
"Wenn man neugierig ist und wissen will, wie die Dinge zusammenhängen, dann ist Theologie eine spannende Wahl. Selbst wenn man nicht unbedingt Pfarrerin oder Pfarrer werden möchte."
Welche Art Menschen zieht denn das Studium heute an?
Zum einen sind es Menschen, die christlich aufgewachsen sind, vielleicht aus Pfarrfamilien kommen oder in der Kinder- und Jugendarbeit tätig waren. Die kommen bereits mit einer ziemlich klaren Vorstellung, wie das Gemeindeleben aussieht, und wissen, dass sie gern dort arbeiten möchten. Dann gibt es Studentinnen und Studenten, die Theologie im Nebenfach studieren, weil sie gemerkt haben, dass die Religion vielleicht doch eine größere Rolle in unserer modernen Welt spielt, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Diese Menschen wollen vielleicht nicht unbedingt ins Pfarramt, aber sie finden die gesellschaftlichen Fragen dahinter spannend. Schließlich gibt es Studierende, die man als Sucherinnen und Sucher bezeichnen könnte. Die haben vielleicht Berührungsängste mit dem Pfarramt, aber sie finden das Sinnangebot der Theologie spannend.
"Wenn man neugierig ist und wissen will, wie die Dinge zusammenhängen, dann ist Theologie eine spannende Wahl."
Wie vertragen sich diese verschiedenen Gruppen im Studium untereinander?
Da können höchst spannende Debatten entstehen, etwa zwischen Christen mit evangelikalem Hintergrund und Menschen, die selbst nicht glauben. Diese Gespräche stoßen wichtige intellektuelle Prozesse an, berühren aber auch zentrale Fragen der eigenen Entwicklung.
Pfarrer brauchen auch viele praktische Kompetenzen, etwa wie man eine Gemeinde leitet oder wie man Seelsorge leistet. Merkt man denn schon im Studium, ob man aus dem richtigen Holz geschnitzt ist?
In der Theologie geht es um die kritische Reflexion des Glaubens und nicht um den unmittelbaren Bezug zur Praxis. Ich erlebe immer wieder Menschen, die sagen: „Den Glauben hab ich schon, jetzt brauche ich nur noch das Handwerk.“ Aber die Idee hinter dem Hochschulstudium der Theologie ist, dass man als Pfarrerin oder Pfarrer selbstständig über theologische Fragen urteilen können soll. Es geht in diesem Beruf nicht um das Transportieren kirchlicher Lehre, sondern darum, Menschen zu einem selbstbestimmten Glauben anzuleiten. Das Studium erlaubt also eher einen Schritt zurück, hinter die eigene Praxis und das eigene Wissen. Die praktischen Fähigkeiten werden dann im Vikariat erworben. Es ist aber natürlich sinnvoll, schon während des Studiums ein Gemeindepraktikum zu machen.
Abstand von den eigenen Prägungen zu nehmen, ist sicherlich ein anstrengender Prozess. Was erleben Studentinnen und Studenten, die sich aus ihrem Glauben heraus entscheiden, Theologie zu studieren?
Das hängt davon ab, ob sie im Studium geschützte Räume finden, in denen sie ohne Gesichtsverlust mit anderen über ihren Glauben diskutieren können. Neben der Vermittlung des Stoffes verstehe ich es als eine wichtige Aufgabe, solche Situationen zu inszenieren. Andererseits kann man natürlich niemanden zu dieser Auseinandersetzung zwingen – existenzielle Glaubensfragen sind dem Zwang enthoben, das ist eine Grundeinsicht im Protestantismus. Da haben wir Hochschullehrer eine große Verantwortung, denn natürlich werden auch wir immer wieder gefragt, wie wir beide Perspektiven unter einen Hut bringen.
Wie kann man üben, seinen Glauben zu reflektieren?
Ich finde vor allem den Bezug auf die Lebensrealität wichtig. Wenn man bei BlaBlaCar eine Fahrt nach Hause bucht und sich als Theologiestudentin outet, bekommt man ungefragt Einstellungen zu Glaubens- und Lebensfragen erzählt. Viele Studierende erleben das als Bedrohung und denken, sie müssten jetzt etwas ganz Tolles sagen, damit sie nicht als Depp dastehen. Oder sie denken sogar, sie müssten ihren Mitfahrer zum Glauben bringen. Wenn man solche Situationen im Seminar durchspielt, lernt man nicht nur etwas über den eigenen Glauben, sondern bildet auch wichtige Soft Skills für die Vermittlung von Glaubensthemen aus.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Der Glaube nimmt in seiner Bedeutung ab, soziale Unterschiede werden größer. Vor welchen Herausforderungen stehen die Pfarrerinnen und Pfarrer, die Sie ausbilden?
Diese Frage ist für mich schwer zu beantworten, weil ich die Studierenden ja nur im ersten Ausbildungsabschnitt betreue und nur wenige Rückmeldungen aus der Praxis bekomme. Aber meine Vermutung ist, dass der Beruf nicht mehr die gleiche Autorität verleiht, wie das noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war. Gleichzeitig erwarten vor allem Gemeinden, dass von der Pfarrerin beziehungsweise vom Pfarrer viele Impulse fürs Gemeindeleben ausgehen. Die Frage zu stellen, was die christliche Botschaft mit unserem Leben zu tun hat, und einen Eindruck davon zu vermitteln, welche orientierende Kraft die biblischen Geschichten haben, ist heute auf jeden Fall wichtiger als je zuvor. Ich denke, wir brauchen Menschen, die diese Geschichten erzählen und ins Leben übersetzen – einfach weil dieses Orientierungswissen sonst verloren geht.
Welche Frage sollten sich Menschen stellen, die darüber nachdenken Theologie zu studieren?
„Interessiert mich das?“ – das reicht, mehr braucht man nicht.